HM-HETZELMEDIA
Von : H.HETZEL, Den Haag
Datum : 15.7.2023
Niederlande/Das Rutte-Drama
Der Dolchstoß in den Rücken von Mark Rutte:
Sigrid Kaag wollte durch ein Misstrauensvotum gegen Rutte selbst Premierministerin werden/Drohender Anruf von Kaag kam eine halbe Stunde vor Beginn der Parlamentsdebatte am Montagmorgen 10. Juli 2023
Von HELMUT HETZEL
Den Haag. Hinter den Kulissen hat sich in Den Haag in der vergangenen Woche ein regelrechter Politkrimi abgespielt. Er gipfelte in der völlig unerwartet kommenden Ankündigung des noch geschäftsführend amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte (56), dass er sich vollständig aus der nationalen niederländischen Politik zurückziehen werde. Die Ankündigung machte Rutte am Montagmorgen, dem 10. Juli, um 11 Uhr im Haager Parlament, nachdem er bereits am Freitagabend, dem 7. Juli, den Rücktritt der von ihm geführten Vier-Parteien-Koalition bekannt gegeben hatte. Sie scheiterte an unüberbrückbaren Gegensätzen in der Migrationspolitik.
Dass Rutte ganz aus der nationalen Politik ausscheiden will und am 22. November bei den nun bevorstehenden Neuwahlen nicht mehr als Spitzenkandidat der rechtsliberalen Partei VVD antreten will, dass war ein Paukenschlag, den niemand erwartet hatte. Denn Rutte hatte nach seinem Rücktritt als Premierminister zwar mit dem Gedanken gespielt, sich ganz aus der nationalen Politik zu verabschieden, aber noch keine definitive Entscheidung getroffen. Auslöser dafür, dass er dies am Montagmorgen des 10. Juli um 11 Uhr dann doch ankündigte, war ein Telefonat von Sigrid Kaag (61), Vize-Premier, Finanzministerin und Chefin der mitregierenden linksliberalen Partei D´66. Kaag rief Rutte eine halbe Stunde vor Beginn der Parlamentsdebatte am Montag, den 10. Juli an. Sie informierte Rutte darüber, dass Teile der D´66-Fraktion ein gegen Rutte geplantes Misstrauensvotum unterstützen werden. Einbringen wollte den Misstrauensantrag gegen Rutte der Fraktionsvorsitzende der Grünen Jesse Klaver. Aber Klaver hatte Rutte darüber bereits am Sonntag, den 9. Juli, informiert. Da aber war für Rutte noch klar, dass dieser von Klaver geplante Misstrauensantrag gegen ihn im Parlament keine Mehrheit bekommen würde. Doch der Anruf von Sigrid Kaag und deren Ankündigung, besser: deren Drohung, dass auch Teile der D´66-Fraktion den Misstrauensantrag unterstützen werden, veränderte alles. In einem solchen Fall, nämlich mit den Stimmen der D´66-Abgeordneten, wäre der Misstrauensantrag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolgreich gewesen. Folge: Rutte hätte dann seinen Platz als Ministerpräsident sofort räumen müssen. Die Vize-Premierministerin Sigrid Kaag hätte ihn einnehmen können. Rutte hätte nicht mehr geschäftsführend als Premierminister im Amt bleiben können. Kaag hätte regieren können.
Sigrid Kaag hätte endlich ihr großes Ziel, das sie immer wieder ankündigte, erreicht gehabt: Denn Kaag wollte die erste weibliche Premierministerin der Niederlande werden. Darum der Dolchstoß in den Rücken von Rutte kurz vor Beginn der Parlamentsdebatte am Montagmorgen, 10. Juli, so berichten die Zeitung „De Telegraaf“ und das Nachrichtenmagazin „EW-Elsevier Magazine“ übereinstimmend. Rutte parierte den Dolchstoß von Kaag und wehrte ihn ab, in dem er im Parlament dann in seiner Rede seinen Rückzug aus der Politik ankündigte. Nach diesem Paukenschlag unterbrach Parlamentspräsidentin Vera Bergkamp, die wie Kaag, der linkliberalen D´66 angehört, die Sitzung. Und es geschah dann nach Fortsetzung der Sitzung eine Stunde später, das, womit Sigrid Kaag wohl nicht gerechnet hatte. Der Grüne Jesse Klaver brachte seinen Misstrauensantrag gegen Premier Rutte nicht ein.
Mehr noch: Er stand auf, lief zu Rutte, schüttelte ihm die Hand und sagte zu ihm „Ich mag dich.“ Ob das erst gemeint war, sei dahin gestellt. Aber wenn es ernst gemeint war, dann war es eine große menschliche und politische Geste.
Es hatte jedenfalls zur Folge, dass es keinen Misstrauensantrag gegen Rutte gab und dass Mark Rutte als Ministerpräsident weiterhin bis zu den Neuwahlen im November und bis zur Formierung einer neuen Regierung in Den Haag geschäftsführend im Amt bleiben kann. Sigrid Kaag hatte hoch gepokert und verloren. Sie wollte Rutte stürzen und ihn als Regierungschefin direkt beerben. Das ging schief. Darauf kündigte auch sie ihren Rückzug aus der nationalen Politik an.
Interessant auch zu wissen, was in der einen Stunde, in der die Parlamentsdebatte unterbrochen war, in der VVD-Fraktion hinter verschlossenen Türen passierte. Dort erhielt Mark Rutte stehende Ovationen. Dort flossen Tränen, nachdem er kurz zuvor im Parlament seinen Rückzug aus der nationalen Politik verkündet hatte. Dort wurde auch der Plan geschmiedet: Falls es zu einem Misstrauensantrag gegen Mark Rutte kommen sollte und falls große Teile der 24-köpfigen D´66-Fraktion diesen Antrag unterstützen sollten, dann werde die VVD ebenfalls einen Misstrauensantrag gegen Sigrid Kaag einbringen. Der habe große Chancen, ebenfalls eine Mehrheit im 150-köpfigen Parlament zu erhalten. Er hätte Kaag dann ebenfalls zum sofortigen Rücktritt gezwungen, wenn er angenommen worden wäre. Aber so weit kam es nicht, da auch der Misstrauensantrag gegen Mark Rutte ausblieb.
Nur, das Vertrauensverhältnis zwischen Rutte und Kaag, zwischen der rechtsliberalen VVD von Rutte und der linksliberalen D´66 von Kaag ist nun völlig zerrüttet. Sie müssen aber noch bis zur Neuwahl am 22. November zusammen weiterregieren. Wenn auch nur geschäftsführend.
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