HM-HETZELMEDIA
Von : H.HETZEL, Den Haag
Datum : 2.3.2022
Niederlande/Deutschland/Russland/EU/Ukraine
Ukraine in die EU ´´ ist eine gute Idee´´ Aber: Was kommt nach Putin? ´´Wir brauchen eine eurasische Friedensordnung´´ – EU-Mitgliedschaft entkoppeln von der Nato-Mitgliedschaft
Interview mit der Professorin für Europapolitik Ulrike Guérot zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die Zeit danach
Mit Ulrike Guérot sprach HM-Herausgeber und Chefredakteur Helmut Hetzel
F: Frau Guérot, in der Ukraine tobt der vom russischen Präsidenten Putin gegen die Ukraine angezettelte Angriffskrieg. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen hat nun mitten im Krieg vorgeschlagen, die Ukraine in die EU aufzunehmen. Die Ukraine will ebenfalls in die EU, wie es ihr bereits 2014 während der Maidan-Revolution van EU-Vize Frans Timmermans versprochen wurde. Ist das eine gute Idee und ist dies jetzt überhaupt möglich?
A: Zunächst: Ich hätte nicht gedacht, dass Putin´s Truppen in die Ukraine einmarschieren. Dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg ist auf das Schärfste zu verurteilen. Für die unmittelbare Entschärfung der jetzigen Situation ist die Frage einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine zweitrangig, denn dies wäre ein langer Prozess. Trotzdem gilt es, über eine langfristige Friedensordnung in Eurasien nachzudenken. Hierbei spielt die EU eine wichtige Rolle, aber nur, wenn wir die EU-Mitgliedschaft von einer Nato-Mitgliedschaft entkoppeln. Wenn wir auf die letzten 30 Jahre seit dem Mauerfall zurückblicken, dann sehen wir, dass beide Mitgliedschaften mit Blick auf Osteuropa meist parallel erfolgt sind, was jetzt zu dieser großen Diskussion darüber geführt hat, was Russland damals eigentlich zugesagt wurde, wenn auch nicht schriftlich. Die NATO ist also der Zankapfel, die EU bzw. eine EU-zentrierte, europäische Sicherheitsarchitektur hingegen könnte eine Lösung sein.
Das mag zunächst illusorisch klingen, aber wir haben unsere Hausaufgaben in Europa eben nicht gemacht. Wir haben nach Ende des Kalten Krieges nicht nachdrücklich am Konzept einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa gearbeitet, obgleich es immer wieder Anläufe und Debatten darüber gab, z.B. über eine eurasische Sicherheitszone von Lissabon bis Wladiwostok. Wir müssen also wieder grundsätzlich über die Möglichkeit und die Strukturen einer europäischen Sicherheitsarchitektur nachdenken – und daraus ein Angebot an Russland entwickeln. Denn bei aller Verurteilung der russischen Aggression ist ein Krieg des Westens oder der Nato gegen Russland keine Lösung. Wohin soll das denn führen? Soll die Ukraine eine Art „Afghanistan II“ werden? Ich vermisse angesichts der gerade bewilligten Waffenlieferungen Ansätze und das Bemühen um De-Eskalation, wie es eigentlich Tradition in Deutschland ist.
F: Warum eine neue Sicherheitsarchitektur? Es ist doch nun glasklar, dass die Nato derzeit die Lebensversicherung für viele Länder Europas ist, insbesondere für die baltischen Staaten für Polen aber auch für uns in Westeuropa. Warum brauchen wir dann eine neue Sicherheitsstruktur in Europa?
A: Wenn die Nato heute eine Lebensversicherung ist für uns, dann ist sie im dialektischen Sinne aber gleichzeitig auch der Zankapfel, weil Russland bzw. Putin durch die Nato-Ausdehnung seine Sicherheitsinteressen bedroht sieht. Das hat Putin in seiner Rede vom Mittwoch vor der Invasion klargestellt. Die Nato ist also Schutz und Zankapfel zugleich. Was das im Kern für Europa heißt, darüber sollten wir nachdenken.
F: Sie meinen, die Nato ist das rote Tuch für Putin?
A: Das meine nicht ich, sondern das sagt Putin, und die Absichten bzw. die Motivation des Gegenübers zu verstehen, sollte Grundlage jeder Strategie sein. Auch Russland hat legitime Sicherheitsinteressen, was natürlich keinen Angriffskrieg legitimiert. Der Krieg ist eine große Tragödie für die Ukraine und für ganz Europa, mit vielleicht verhängnisvollen Folgen, denn er kann möglicherweise der Auslöser dafür sein, dass eine ganze Weltordnung ins Rutschen kommt. Präsident Biden hat schon von einem „Dritten Weltkrieg“ gesprochen, m.E. fatalerweise. Um mit Clausewitz zu sprechen: Verstehe deine Feinde. Es heißt oft, Putin handle irrational. Ich denke, Putin hat eine Analyse der Situation gemacht und seine Ziele definiert. Was er macht, ist absolut verbrecherisch und völkerrechtswidrig, aber nicht unbedingt irrational. Ein moralisches Urteil nützt in einer Kriegssituation wenig, denn es geht um strategisches Kalkül: Was will Putin und kann er es erreichen? Gerade deswegen ist es so wichtig, dass auch der Westen, dass Europa einen Plan hat, was wir denn eigentlich für diesen Kontinent wollen, außer jetzt in eine Militarisierungsspirale zu gleiten, die möglicherweise außer Kontrolle gerät, z.B. wenn Friedrich Merz jetzt schon von atomarer Aufrüstung spricht. Leider haben wir in Deutschland keine Politiker mehr wie etwa Herbert Wehner oder Egon Bahr, die Russland wirklich verstanden haben.
F: Ist Ex-Kanzler Gerhard Schröder nicht ein großer Russland- und Putin-Versteher?
A: Es ist etwas anderes, Russland zu verstehen und dieses Verständnis für die deutsche oder europäische Staatsräson bzw. seine strategischen Interessen nutzbar zu machen, als sich russischen Interessen anzubiedern und daraus auch noch privaten, ökonomischen Nutzen zu ziehen.
F: Der Ukraine-Krieg hat im Westen, insbesondere in Deutschland, eine politische Kehrtwende um 180 Grad und harte Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Russland ausgelöst. Wie beurteilen Sie das?
A: Die politische Wende um 180 Grad, die die deutsche Bundesregierung unter Führung der SPD – und auch mit den Grünen – innerhalb von 48 Stunden vollzogen hat, ist tatsächlich atemraubend. Ich musste dabei an Berta von Suttner denken, die sagte: „Die Waffen nieder“. Mehr Waffen führen immer zu mehr Krieg. Ich bin – auch wenn es eine Tragödie ist, wie jetzt die Ukraine zu einem Kriegsschauplatz und Konfliktherd wird, dessen Ursachen und Vorgeschichte viel komplexer sind, als die Eskalation der letzten Wochen – irritiert darüber, wie schnell sich die Bundesrepublik von ihrer Tradition der Zurückhaltung bei militärischen Konflikten und dem Verbot von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete – zumal hier in ein auch unter historischen Gesichtspunkten sensibles Gebiet – verabschiedet hat. Gerade von der SPD mit ihrer tendenziell pazifistischen Tradition und ihrer langen Verbindung zu Russland hätte ich mir mehr Bemühen um De-Eskalation oder z.B. die Forderung nach Waffenstillstand gewünscht, anstatt die Bewilligung für die Lieferung von deutschen Sting-Raketen.
F: Fakt ist: Die russische Armee hat die Ukraine auf Befehl von Präsident Putin hin angegriffen. Die Ukraine verteidigt sich. Sollen sich die Ukrainer mit bloßen Händen gegen russische Panzer verteidigen?
A: Alle liefern der Ukraine derzeit Waffen, die USA, Frankreich, die Niederlande. Es gibt keine „bloßen Hände“. Der Angriffskrieg muss so schnell wie möglich beendet und die Ukraine verteidigt werden. Auch ich höre Schreckliches per SMS von ukrainischen Freunden. Aber noch mal: Mit Waffen baut man keine Friedensordnung und ein Krieg mit Russland ist keine Lösung. Wir brauchen De-Eskalation und ein grundsätzliches Nach- und Neudenken der zukünftigen Friedensordnung auf diesem Kontinent.
F: Es sind Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine angelaufen. Können sie den Krieg beenden und was sollte das Ergebnis sein?
A: Niemand weiß momentan, was eine oder gar die Lösung sein könnte, vor allem bei den vielen strittigen Gebietsansprüchen. Vergessen wir nicht, dass die Ukraine selbst entzweit ist zwischen ihrem westlichen und dem östlichen Teil. Vielleicht wäre – siehe der Vorschlag von Frau von der Leyen – eine militärisch neutrale Ukraine, die aber Mitglied der EU ist, eine Lösung?
Wir sollten aber auch Selbstkritik üben. 1992 dachten wir in Europa, das Ende der Geschichte sei da, alles würde „westlich“, auch Russland und sogar China würden marktwirtschaftlich orientierte Demokratien. Das war ein Irrtum. Nun hat der Westen bzw. hat Europa gleich drei Probleme: Die soziale Marktwirtschaft weicht einem eher „autoritären Kapitalismus“, wie es in der Literatur heißt; die Debatte über die koloniale Vergangenheit vieler westlicher Länder zeigt, dass die Zeit der westlichen „Supremacy“ oder Überlegenheit vorbei ist; und drittens sehen wir – die Ukraine ist genau dafür der Trigger – dass die Sicherheitsarchitektur, die ja eigentlich noch aus den Zeiten des Kalten Krieges stammt, in Europa nicht mehr funktioniert. Aus der selbstkritischen Zusammenschau dieser drei Elemente müsste ein neuer Entwurf für Europa im 21. Jahrhundert hervorgehen.
Außerdem – ohne vergleichen oder aufzurechnen zu wollen: Seit 1945 bis heute sind die meisten Kriege, darunter auch Angriffskriege, von den USA ausgegangen. Irak ist nur das jüngste Beispiel. Darum sollte der „Westen“ mit moralischer Überhöhung vielleicht etwas vorsichtig sein. Krieg ist immer schlecht und die saubere Trennung in „gute“ und „böse“ Kriege allein schon darum nicht möglich.
F: Aber Putin ist ein Revisionist. Er denkt in Kategorien des 20. Jahrhunderts, des 19. Jahrhunderts. Wie können wir ihn stoppen?
A: Ja, er ist ein Revisionist und sicher mit einem alten KGB-Weltbild. Aber wir können Russland nicht zu einem Nord-Korea machen. Wir müssen mit Russland auf diesem Kontinent auskommen, wir brauchen es sogar z.B. mit Blick auf Gas. Wir müssen also über die Zeit nach Putin nachdenken, auf die russische Opposition schauen, darüber nachdenken, wie wir in Europa mit Russland friedlich zusammenleben wollen, wie Russland – die Hoffnung stirbt zuletzt – weiter demokratisiert werden kann.
Abgesehen davon ist es vielleicht nicht revisionistisch, aber doch zumindest old-fashionned, eine Konfrontation zwischen der Nato bzw. dem Westen gegen Russland auszutragen, die begrifflich wie strategisch auch aus dem 20. Jahrhundert bzw. der Zeit vor 1989 stammt. Wenn nicht überhaupt nationalstaatliche Angriffskriege fast etwas Anachronistisches haben, in Zeiten, in denen die Weltgemeinschaft dringend gemeinsame Antworten auf den Klimawandel, Ressourcenknappheit oder Pandemien braucht. Das 21. Jahrhundert kann nicht mit den Mechanismen, Strategien und Begriffen des 20. Jahrhunderts gestaltet werden und dazu gehört auch jener der nationalstaatlichen Souveränität, dessen Stern eigentlich im Sinkflug ist. Im besten Fall ist der Ukraine-Konflikt der Auslöser dafür, dass wir dies jetzt alle merken, inklusive China, und die internationale Staatengemeinschaft und ihre Institutionen dementsprechend umbauen.
F: Das geht aber nur, wenn Russland ein freies und demokratisches Land ist. Unter Putin ist Russland eine Diktatur und ein Aggressor. Russland war nie eine Demokratie. Hat die Demokratie in Russland eine Chance?
A: Das hoffe ich. Es gibt viel Widerstand in Russland gegen Putin. Russland ist mehr als Putin und es gibt viele gesellschaftliche Kräfte, die seit langem für mehr Demokratie kämpfen.
F: Die gibt es. Aber werden die Russen den Aufstand gegen Putin wagen?
A: Das wissen wir nicht. Aufstand ist vielleicht auch der falsche Begriff. Eher Wandel mit und durch neue Politiker, mit denen Europa dann eine euro-asiatische Sicherheitsstruktur als Teil einer neuen, internationalen Ordnung aufbauen kann.
F: Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
Ulrike Guérot studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn, Münster und Paris. Sie ist Professorin, Autorin und Aktivistin in den Themenbereichen Europa und Demokratie, mit Stationen in Think Tanks und an Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington, Berlin und Wien. 2014 gründete sie das European Democracy Lab, e.V., eine Denkfabrik zum Neudenken von Europa. 2016 wurde ihr Buch „Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie“ europaweit ein Bestseller. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn und Co-Direktorin des Centre Ernst Robert Curtius (CERC).
Links:
https://www.ulrike-guerot.de/index.html
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www.hetzelmedia.com
www.haagsche-salon.com
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolodymyr_Selenskyj
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